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Gesellschaftspolitische Perspektiven auf die Konstruktion von Diagnosen

  • Theresa Braun
  • 28. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Sept.

Geschrieben von Theresa Braun (M.A. Community Studies and Critical Diversity/B.A. Politikwissenschaft/Kulturwissenschaft), ergänzt durch Informationen von Dr. Armbrust.


Wir hören immer wieder, dass Angehörige sagen, sie kennen dieselben Symptome von sich selbst – meist in abgeschwächter Form. Einhergehend damit wird oft die Frage gestellt, ob Borderline nicht viel mehr Menschen betrifft als bisher angenommen. Zwischen den zahlreichen Diagnosen, die Betroffene oft erhalten, wird die Unterscheidung von Symptomen, aber vor allem die Einschätzung darüber, was als neurotypisch oder krankhaft gilt, schwieriger. Dieser Text soll eine kurze Perspektive auf die Komplexität dieser Tatsache werfen. Eine klare gesellschaftspolitische Positionierung ist besonders wichtig, weil wir weder die Diagnose noch ihr Zustandekommen ohne den Einbezug soziokultureller Hintergründe verstehen können.


Die Entstehung der institutionalisierten Psychiatrie und den Diagnosesystemen geht mit einer nicht immer deutlich sichtbaren Grenzziehung zwischen denen einher, die wir neurotypisch der großen Masse und somit der Allgemeinheit zuordnen und den wenigen, deren Verhalten ein neurotypisches Anderssein deutlich offenbart. Die Grenzziehung ist also graduell – sie ist nicht in Stein gemeißelt. Diagnosen sind also ein Hilfsmittel, welches nie die vollkommene Realität widerspiegeln kann.


In der logischen Konsequenz werden Normalisierung und Pathologisierung – als Markierung krankhaften Verhaltens – in jeder Gesellschaft unterschiedlich ausgehandelt. Jedoch gilt nicht alles, was von der Norm abweicht, als eine Krankheit. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass wir uns alle mit unserer Persönlichkeit auf einem mehrdimensionalen Spektrum zwischen Gesundheit und Krankheit befinden, welches schwanken kann. Die Diagnose einer psychischen Störung liegt meist nur vor, wenn jemand besonders darunter leidet oder sein Leben dadurch stark eingeschränkt ist, weswegen die Person eine/n Therapeut*in aufsucht, der diese Diagnose stellt. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass Diagnosen unter bestimmten historischen und politischen Verhältnissen geschaffen werden. Unterdrückende Verhältnisse und Machtmissbrauch hatten nicht nur Einfluss auf die Entstehung von Diagnosen sondern auch auf den Umgang mit den Betroffenen. Als Vorläufer der Borderline-Diagnose wird oftmals die „Hysterie“ als einer der ersten Diagnosen genannt, unter deren Namen zahlreiche Frauen in Heilanstalten weggesperrt und menschenunwürdigen Bedingungen ausgesetzt wurden.


Im Besten Fall sollten die Diagnosen in einem ausreichend andauerndem, wechselseitigen Kommunikationsprozess zwischen Betroffenem und Therapeut*in entstehen. Lange Zeit herrschte in der Psychiatrie als Institution eine gewisse Arroganz und damit, durch zu schnelles oder falsches Diagnostizieren, einhergehender Machtmissbrauch vor. Heute wird vor der zu schnellen Vergabe gewarnt, denn übergestülpte Diagnosen können schnell entfremden. Die eigene Subjektivität beider Beteiligter spielt dabei immer eine Rolle, weswegen der Idealfall natürlich so aussieht, dass sich beide über die Diagnose einig sind. Geschieht dies nicht, ist eine Krankheitseinsicht eventuell nicht gegeben und es führt nicht zu einer Verringerung des Leids der Betroffenen. Die Zustimmung des Patienten ist für eine Psychotherapie also wesentlich.


Das letzte Jahrzehnt hat viele neue Fragen und Antworten in Bezug auf die Borderline-Erkrankung hervorgebracht. So wissen wir heute, dass Genetik eine weitaus größere Rolle spielt als bisher gedacht. Transgenerationale Traumata können die Genetik so verändern, dass Kinder bereits mit einer vielfach höheren Sensibilität auf die Welt kommen. Trifft diese Sensibilität auf schwierige Lebensbedingungen kommt es zum Erlernen destruktiver Kompensationsmechanismen, mit denen die schwer auszuhaltenden Emotionen reguliert werden. Daher macht es Sinn, dass bestimmte Charaktereigenschaften wie eine starke Emotionalität bereits in der Familie liegen können.


Das Beispiel der abhängigen Persönlichkeitsstörung (DPD) im DSM-III zeigt beispielsweise, wie schwierig es ist, zwischen normaler Persönlichkeitsausprägung und klinisch relevanter Störung zu unterscheiden. Laut Dr. Armbrust ist diese ein klassisches Beispiel für die Normalisierung bestimmter Verhaltensweisen. So seien laut dem DSM-III in etwa 48 Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Deren Symptome ähneln auf der Ebene von Liebesbeziehungen oftmals Verhaltensweisen von Borderline-Betroffenen. Wobei auch hier die Stärke der Symptomatik besonders entscheidend ist. Die meisten Menschen entwickeln jedoch vielfältige Kompensationsstrategien, mit denen sie diese Probleme im Alltag meist gut ausbalancieren können. Oft fällt dieses Kartenhaus dann bei einschneidenden Lebensereignissen in sich zusammen und meist beginnt dann eine Auf- und Verarbeitung von emotionalen Problemen und daraus resultierender destruktiver Verhaltensweisen.


Hohe Prävalenzschätzungen (Häufigkeit) von Erkrankungen können auch darauf hindeuten, dass die Diagnosekriterien zu weit gefasst sind (im Sinne einer Pathologisierung). Ein Beispiel ist die jahrzehntelange Diskussion um ADHS. Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass viel mehr Menschen sich nicht in dem wiederfinden würden, was wir allgemein als neurotypisch wirklich gesund bezeichnen würden. In diesen Fällen spielen gesellschaftliche Kontexte (z. B. kulturell akzeptierte Abhängigkeitsmuster) eine Rolle. So können beispielsweise auch Verhaltensweisen in einer Gesellschaft normalisiert sein, die unter einer „Diagnosebrille“ jedoch eher als schwierig eingestuft werden würden. Traumaexpert*innen betonen beispielsweise immer wieder, dass Bindungstraumatisierungen weit verbreiteter sind als bisher angenommen. In manchen Fällen wird sogar von einer kollektiven Traumatisierung der Gesellschaft gesprochen, deren Mitglieder*innen wenig in der Lage sind, mit Gefühlen gesund umzugehen als auch eigene und die Bedürfnisse anderer zu erkennen, um somit mitfühlend und rücksichtsvoll durch die Welt zu gehen – ohne eben eigene Unebenheiten auf andere zu projizieren.


Eines dieser Beispiele ist Donald Trump sowie viele weitere stark egoistisch handelnde Menschen, die ihre Macht in hohen Positionen missbrauchen. Bei Persönlichkeiten wie Trump könnte argumentiert werden, dass bestimmte Merkmale, die pathologisch wirken, für ihn selbst nicht mit Leid verbunden sind und es deswegen weder zu einer Diagnose noch zu einer Therapie kommt – was dann die Frage aufwirft: Wie normalisiert sind psychische Störungen in unserer Gesellschaft? Wie normalisiert sind das Streben nach Macht, Konkurrenzdenken und das Durchsetzen wollen der eigenen Interessen um jeden Preis?


Diese Tatsache bringt die zentrale Kritik an den hochkomplexen Diagnosesystemen und ihren gesellschaftlichen Folgen, den lange abgeschotteten und ausgrenzenden psychiatrischen Einrichtungen sowie an der transgenerationalen Weitergabe von Gewalt auf den Punkt. Oftmals verhindert ebendiese sehr komplexe Sichtweise auf psychische Erkrankungen, die Wurzel der Probleme zu lösen. Nicht selten wird dem kranken Individuum nicht nur die alleinige Verantwortung für die Verbesserung des eigenen Zustands zugesprochen, sondern es wird zu einer „gestörten Persönlichkeit“, deren systemische Entstehungsgründe insbesondere auf gesellschaftlicher und politischer Ebene ausgeblendet werden. Ein Fortschritt ist dahingehend die Revision des ICD-10 in den ICD-11. Die Einteilung in verschiedene Persönlichkeitsstörungen fällt weg und erfolgt nur noch nach dem Schweregrad der Persönlichkeitsstörung. Diagnosen können sich ändern und die Symptome sind manchmal nur schwer abgrenzbar. Borderline, ADS/ADHS, Autismus und andere Störungen können aufgrund entwicklungsbedingter Traumata gleichzeitig auftreten. Hier wird soll dann beispielsweise lediglich das dominierende Muster diagnostiziert werden. Gleichzeitig zieht Borderline als ein sogenannter Ursprung viele Diagnosen auf symptomatischer Ebene nach sich. Das zeigt sich oft in Essstörungen, Suchtverhalten oder einer Angststörung und kann vielfältig ausfallen. Dies ist mitunter ein Grund, warum die Diagnose oftmals unentdeckt blieb. Borderline bleibt jedoch auch im ICD-11 als eigenständige Diagnose erhalten. Dies hat den Grund, dass insbesondere deutsche Wissenschaftler*innen befürchteten, dass die Abschaffung der Diagnose negative Auswirkungen auf die Finanzierung explizit passender Therapien wie DBT oder die Schema-Therapie haben könnte. Insgesamt entwickelt sich der Ansatz tendenziell in eine positive Richtung: weg von Fragen der Benennung und hin zu konstruktiven Lösungsansätzen. Wobei natürlich die Benennung von Diagnosen für Betroffene einige wichtige Funktionen erfüllt, wenn es um die Anerkennung des eigenen Leidens für sich und andere geht.


Exakte Zahlen zur Borderline-Diagnose gibt es nicht, jedoch hat die vermehrte Diagnosestellung viel mit dem Gewinn an neuen Erkenntnissen zu tun. Unsere Gesellschaft ist sensibilisierter geworden für die eigene Psyche. Insbesondere junge Menschen fordern die Anerkennung ihrer Emotionen und Probleme. Ein möglicher Grund liegt im steigenden Anpassungsdruck einer zunehmend beschleunigten, globalisierten und neoliberalen Gesellschaft. Für sensible Menschen wird die gesamtgesellschaftliche Situation zunehmend herausfordernder.


Eine adäquate Versorgung der Betroffenen – auch finanziell über die Versichertengemeinschaft – ist nur in einem differenzierten, gut organisierten System möglich. Doch darüber hinaus braucht es mehr: Es benötigt dringend Verständnis für die Diagnose und  die individuellen Lebensrealitäten der Betroffenen.

 

 

 
 
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